Die Grenzen der Milieus überschreiten

Pfarrer Heinzpeter Hempelmann

„Evangelisch im Täle“ beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Fragen


Früher verglich man den Aufbau einer Gesellschaft mit einer Pyramide: ganz oben war Einer, der König, darunter der Adel und andere Privilegierte, dann die breite Masse des Volkes. Diesem Modell folgte noch bis vor Kurzem die Einteilung in Ober-, Mittel- und Unterschicht. Das aber spiegelt die Vielfalt der heutigen Gesellschaft nicht mehr. In zwei gutbesuchten Abendveranstaltungen in Tischardt und in Frickenhausen erläuterte Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann, Theologischer Referent aus Stuttgart, die so genannte Lebenswelt-Segmente, nach denen man heute Vorlieben und Lebensstile voneinander abgrenzt.

Den Rahmen für diese Themenabende bildet der Gemeindeentwicklungsprozess unter dem Motto „Evangelisch im Täle“, der in den sechs evangelischen Kirchengemeinden im Neuffener Tal eingeleitet worden ist. „Auf Gott hören – Menschen wahrnehmen“  ist das Programm einer ersten Phase des Beobachtens und Nachdenkens. Die Ausgangsfrage, die sich der Referent stellte, war „Wie tickt man im Neuffener Tal?“. Daraus ergaben sich die anderen Fragen: Aus welchen Milieus kommen die Gemeindeglieder, für die die Kirche oder der christliche Glaube eine Rolle spielt? Was müsste man tun, damit Menschen aus allen Milieus eine Beziehung zur Kirche und zum christlichen Glaube finden können?

In den Sozialwissenschaften unterscheidet man zunächst drei Mentalitäten, sagte Hempelmann: eine prä-moderne Mentalität, von der die traditionellen Werte wie Ordnung und Pflichterfüllung hochgehalten werden, sodann eine Mentalität, die sich zu Modernisierung, Individualisierung und Lebensgenuss bekennt, schließlich eine post-moderne Mentalität, die sich durch Experimentierfreude auszeichnet und sich möglichst viele Optionen offen halten will.

Diesen Mentalitäten stellte Hempelmann ein Gesellschaftsmodell an die Seite, das noch differenzierter zu beschreiben versucht, wie Menschen heute „ticken“. Zehn Milieus oder Gruppen Gleichgesinnter lassen sich mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden. Im Anschluss an Untersuchungen und Ergebnisse des renommierten Heidelberger Sinus-Instituts sagte Hempelmann: „In der Kirche treffen wir nur auf Menschen, die aus zwei, maximal aus drei Milieus kommen. Es sind in der Hauptsache konservativ eingestellte Menschen aus dem ‚Bildungsbürgertum‘, sodann traditionsverwurzelte Menschen, also Ältere und Angehörige der Kriegsgeneration, und auch Angehörigen einer bürgerlichen Mitte – in diesen Milieus lässt man sich auf kirchliche Angebote ein oder ist der sonntägliche Gottesdienstbesuch ein Thema.“ Ganz offensichtlich fühlen sich die anderen Milieus oder „Lebenswelten“ von der Kirche nicht angesprochen, obwohl viele in diesen Milieus Kirchenmitglieder sind. Eine kleine Ausnahme bilden noch, so Hempelmann, Akademiker aus dem postmateriellen Milieu der aufgeklärten Nach-68er-Generation. Manche von ihnen werden von bestimmten kirchlichen Angeboten angezogen oder finden in der Kirche einen Freiraum, um sich aktiv einzubringen. Diesem postmateriellen Milieu seien, sagte Hempelmann auf Nachfrage, auch ca. 90 Prozent der Pfarrerschaft von heute zuzuordnen. In den anderen Milieus gebe es zwar gewiss Formen des christlichen Glaubens, nur kämen diese Menschen nicht mit den Formen der Kirche zurecht.

Sehhilfe, kein Schubladen-Denken!

Wichtig war für den Referenten, auf eine spezielle Gefahr hinzuweisen. Sie bestehe darin, sagte Hempelmann, dass man Menschen durch die Zuordnung zu einem Milieu in eine bestimmte Schublade stecke und sich von Vorurteilen leiten lasse. Die Beschäftigung mit den Milieus sollte aber lediglich eine „Sehhilfe“ darstellen, die man benutzt, um zu sehen, ohne zu werten. Die von Sinus definierten Milieus seien Konstrukte, die einiges erklären, aber nicht alles erfassen können. Zu beachten sei ferner, dass einerseits die unterschiedlichen Milieus kaum Berührungen miteinander hätten, dass jeder am liebsten unter Seinesgleichen bleiben wolle, ja, dass es regelrechte Sperren, die Soziologen sprächen von „Ekel-Schranken“, zwischen verschiedenen Lebenswelten gebe. Andererseits ließe sich der einzelne Mensch oft nur schwer eindeutig einem einzigen Milieu zuordnen, es gebe Überschneidungen und Berührungen zwischen benachbarten Milieus.

Die Ausführungen des Philosophen und Theologen Hempelmann lösten eine rege Aussprache unter den anwesenden Gemeindegliedern aus. Es wurde zum Beispiel nach Wanderungsbewegungen zwischen den Milieus gefragt, die es tatsächlich gibt, wenn auch eher selten, nämlich als Aufstieg in ein ähnliches, aber gehobenes Milieu oder als Abstieg in ein Milieu der Unterschicht. Ein anderes Gebiet, das angesprochen wurde, war die Politik. Anhand der Milieutheorie könne das Ergebnis  der letzten Landtagswahl so erklärt werden, sagte Hempelmann, dass viele Wählerstimmen für die seitherige Regierung aus dem Milieu der Konservativen und dem Milieu der Traditionsbewussten gekommen seien, diese Milieus aber demographisch gesehen abnehmen, während die nachwachsende Generation eher postmodern Performer oder Experimentalisten seien, die sich in den Parteien, die die Wahl gewonnen haben, am ehesten wiederfinden.

Als Grundsatz für die kirchliche Arbeit formulierte Hempelmann: „Die Kirche muss sich kulturell auf die Menschen einstellen, nicht die Menschen sich auf die Kirche.“ Dieser Satz führte zu vielen Überlegungen, die angesprochen, aber nicht beantwortet werden konnten: Wie kann ein Einzelner überhaupt angemessen in eine Beziehung zu jemand aus einem anderen Milieu kommen? Wie gelingt Kommunikation mit jemand, der einem anderen, vielleicht entfernten Milieu angehört? Ist es möglich, christliche Themen und Glaubensüberzeugungen in einer Sprache auszudrücken, die in einem anderen, fremd wirkenden Milieu verstanden wird? Wie können wir verständlich ausdrücken, was wir glauben? Wie können kirchliche Angebote aussehen, die auf Menschen aus einem ganz bestimmten Milieu zugeschnitten sind? Soll man solche Angebote überhaupt machen? Wie müssten kirchliche Angebote ausgestaltet sein, dass sie Menschen aus allen Milieus gerecht werden? Mit diesen Fragen werden sich die Kirchengemeinden in ihrem gemeinsamen Entwicklungsprozess „Evangelisch im Täle“ noch intensiver beschäftigen.